Wien nimmt Abschied von Lotte Lehmann:
Morgen wird die legendäre Marschallin auf dem Zentralfriedhof begraben;
von Andrea Seebohm
24. February 1977

Morgen, Freitag, wird Lotte Lehmann in einem Ehrengrab der Stadt Wien auf dem Zentralfriedhof begraben. Es war ein lebenslanger Wunsch der im August verstorbenen grossen Sängerin, in jener Stadt, in der sie die glücklichste Zeit verlebte, ihre letzte Ruhestatt zu finden.

Das erstemal war Lotte Lehmann–damals 26 Jahre alt–1914 nach Wien gekommen. Ein “Gastpiel auf Engagement” als Evchen in Wagners Meistersingern unter der Leitung von Franz Schalk hatte sie in die Kaiserstadt gebracht. Publikum und Press zeigten sich von der jungen Norddeutschen–sie stammte aus Perleberg in der Priegnitz–angetan. Die Hof-opern-Direktion bot ihr einen Vertrag an.

Doch die Lehmann kehrte zunächst an ihr Hamburger Stammhaus zurück, an dem sie–mit einer Anfangsgage von 200 Mark–ihre ersten Bühnenschritten gewagt hatte: als zweiter Knabe in Zauberflöte, als Sängerknabe im Tannhäuser, als Gerhilde in der Walküre.

Rührende Unbeholfenheit

Nach ihrer ersten Freya im Rheingold (unter Arthur Nikisch) hatte ihr die Hamburger Presse “rühende Unbeholfenheit” attestiert. Doch schon folgten grössere, schwierigere Partien: die Gutrune, die Irene im Rienzi, die Sophie im Rosenkavalier,die Eurydike am selben Abend, als Caruso (mit Leoncavallos Bajazzo) am Hamburger Stadttheater gastierte. “Que bella magnifica voce! Una voce italiana”, schwärmte der berühmte Tenor nach der Vorstellung und schlug sie gleich als seine Micaela für Carmen vor. Überglücklich sagte die Lehmann zu–doch die Intendanz untersagte ihr das Wagnis, das nur wenige Tage später statfinden sollte: Sie hatte die Partie nicht studiert.

Otto Klemperer, gerade nach Hamburg gekommen, erarbeitete mit ihr in einer Woche die Elsa im Lohengrin. Auch diese letzte “Prüfung” bestand sie, obwohl es bei den Proben etliche Wutausbrüche Klemperers gegeben hatte.

Fast 50 Jahre später trafen die beiden in London wieder zusammen. Es entspann sich folgender Dialog: “Was tun Sie hier, Frau Lehmann?” –“Ich halte Meisterkurse ab, sie sind sehr erfolgreich.” — “So ich hatte eigentlich gehofft, dass Sie –seit Sie zu singen aufgehört haben–alle jene Partien endlich lernen würden, die Sie früher gesungen haben. Sie waren immer eine berühmte Schwimmerin!” — “Und Sie hatten immer eine böse Zunge. Lachen Sie nur, aber das Publikum liebt meine Kurse. Ich habe sogar wieder gesungen.” — “Gesungen? Hahaha–was haben Sie denn gesungen?” — “Die Fidelio-Arie. Natürlich das meiste davon eine Oktave tiefer.” –“Oh, eine Oktave tiefer? In E-Dur oder Es dur?” Eine Anspielung auf jene Zeit, da Toscanini in Salzburg der Lehmann zuliebe, die mit den hohen Tönen stets Schwierigkeiten hatte, die Arie um einen Halbton heruntertransponierte.

Klemperers Zuneigung

Wer Klemperer gekannt hat, der weiss, dass solche sticheleien lediglich aus grosser Zuneigung und Liebe entsprangen. Die Lehmann hatte er so ins Herz geschlossen, dass er sogar seiner Tochter der Namen Lotte gab.

Doch zurück nach Wien. 1916 trat Lotte Lehmann endlich ihr Engagement an der Hofoper an, und zwar mit der Agathe im Freischütz. Sie stiess zu jenem glanzvollen Ensemble, dem unter anderen Selma Kurz, Marie Gutheil-Schoder, Maria Jeritza, Leo Slezak, Alfred Piccaver und Richard Mayr angehörten. Sie mit ihrer deutschen Gründlichkeit und Ehrlichkeit, mit ihrer unverblümten Offenheit und Redlichkeit in dem intrigennest zurechtzufinden.

Vor allem die Tatsache, dass die Jeritza zahllose Partien ihres eigenen Repertoires sang (Elsa, Elisabeth, Sieglinde, Tosca, Oktavian), machte ihr das Leben nicht leichter. Aber spätestens mit der Wiener Uraufführung der Ariande, bei der sie auf ausdrücklichen Wunsch vor Richard Strauss den Komponisten sang, gelang ihr der endgültige Durchbruch. “Seit gesetern abend, 8.30 Uhr weiss ganz Wien, wer Lotte Lehmann ist”, schrieb eine führende Wiener Tageszeitung.

Nach dem Zusammenbruch der Monarchie war sie es auch, die als erste den erneuerten Titel einer österreichischen Kammersängerin erhielt.

Ahnung ihrer Persönlichkeit

Sie war die erste Färberin in der Frau ohne Schatten, die erste Wiener Schwester Angelica (Puccini), die erste Christine im Intermezzo (in Dresden). Wer nachprüfen will, wie sie Oper wie sie Lieder gesungen hat, der bekommt durch ihre Platten eine Ahnung von ihrer Persönlichkiet. Zu haben sind derzeit in Wien Schumanns “Frauenliebe und -leben (am Klavier: Bruno Walter) sowie sechs Arienplatten und legendäre Walküren-Ausschnitt unter Bruno Walter. Ihre Marschallin längst Operngeschichte geworden, hüten jene Glücklichen, die den 1933 enstandenen Querschnitt besitzen, als Kostbarkeit. Das “Ja, ja” dieser Aufnahme ist welberühmt geworden: Elisabeth Schumann hat den resignierten Seufzer nachträglich à la Lehmann in das Mikrophon gehaucht, weil die Marschallin selbst bereits abgereist war…

“Meine grosse Schwäche, war den Mangel an perfekter Technik”, hat die Lehmann einmal behauptet. Aber bis zuletzt wusste sie, dass sie anderes, Wichtigeres, Unwiederbringliches zu bieten hatte, nämlich Wärme, Menschlichkeit, Wahrheit im Gesang. London, Paris, New York –die Welt lag ihr zu Füssen. Glücklich war sie, die 1938 aus Abscheu vor der neuen Macht nach Amerika emigrierte, nach eigenen Aussagen vor allem in Wien. Hierher, an die Seite ihre Eltern die ebenfalls auf dem Zentralfriedhof begraben sind, fürte sie nun auch ihre allerletzte Reise.